Jahrbuch / Annals

Engels, Eve-Marie; Gutmann, Mathias; Weingarten, Michael (Hg.)

Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie 8

212 S., 17 x 24 cm, 36 Abb. u. Tab
VWB-Verlag, Berlin 2002
ISBN 3 – 86135-368 – 7
27,00 Euro
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Themenschwerpunkt: Biologische und philosophische Anthropologie

Es ist unübersehbar: Seit einigen Jahren steht philosophische Anthropologie wieder hoch im Kurs. Und wie schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Ausbildung der philosophischen Anthropologie eine Reaktion auf die mit der Durchsetzung der Moderne, den damit verbundenen Krisen und Umbrüchen – nicht nur im Bereich der lebensweltlichen Erfahrungen, sondern auch in den Wissenschaften – war, so steht auch heute die Wiederbelebung der Bemühungen um philosophische Anthropologie im Zeichen von Krisen und Umbrüchen. Wenn wir die gesellschaftlich-kulturelle Dimension ausblenden, so kann festgehalten werden, dass die philosophisch-anthropologischen Überlegungen von u.a. Scheler, Plessner, Gehlen, Merleau-Ponty stark motiviert waren durch die Auseinandersetzungen um den Darwinismus (einschließlich seiner Ausweitungen in soziale Zusammenhänge bzw. seiner Entgrenzung zu einer Weltanschauungsphilosophie) einerseits, den damit einhergehenden Bemühungen um ein ausschließlich naturwissenschaftlich fundiertes Menschenbild andererseits. Sieht man einmal von Scheler ab, dann darf festgehalten werden, dass die verschiedenen Typen philosophischer Anthropologie engsten Kontakt zu den biologischen und medizinischen Wissenschaften suchten resp. mit Vertretern dieser Disziplinen engsten zusammenarbeiteten: Helmuth Plessner mit dem niederländischen Mediziner und Physiologen Frederik J. J. Buytendijk; Arnold Gehlen mit Konrad Lorenz (dessen jetzt publiziertes “russisches” Manuskript den bezeichnenden Untertitel “Die Naturwissenschaft vom Menschen” hat), Maurice Merleau-Ponty mit dem Medizin- und Biologiehistoriker Georges Canguilhelm, über den er mit den Arbeiten des Neuro-Mediziners Kurt Goldstein bekannt wurde. Schließlich waren für alle philosophischen Anthropologen (also einschließlich Max Schelers) die Arbeiten von Wolfgang Köhler, Jakob von Uexküll und Hans Driesch, mit diesem die Tradition der “philosophischen Biologie” von ausschlaggebender Bedeutung.

Heute reagieren philosophisch-anthropologische Bemühungen auf Genetik, Gentechnik und die damit einhergehende “Genetifizierung” des Menschen in Biologie und Medizin. Exemplarisch verdeutlicht: In seinem Buch “Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über die moderne Genforschung” von 1998 unterscheidet Francois Jacob zwischen zwei Typen von Organismen, z.B. dem “Alltagshund, den man streichelt, nach dem man pfeift und mit dem man spazierengeht”, und dem “biologischen Hund”, der heute “molekular geworden sei”. Dies verknüpft Jacob dann mit folgender Behauptung: “Die Biologie sagt uns, dass von unseren beiden Hunden der ‘molekulare Hunde’ der wirkliche ist. Der ‘Alltaghund’ ist nur ein blasser Widerschein, ist nur der unseren Sinnen zugängliche Aspekt.” Würde sich diese Behauptung nur auf Hunde bzw. nicht-menschliche Lebewesen beziehen, dann könnte der geneigte Leser schmunzelnd erinnern an Diskussionen in der Atomphysik zu Beginn des letzten Jahrhunderts, in der ja ähnliches, nur bezogen auf Gegenstände der Physik, behauptet wurde: Der eigentliche Tisch z.B. bestehe ja gar nicht aus – wenn man daran stößt – doch recht hartem Holz, sondern aus winzigen Atomen mit großen leeren Zwischenräumen; nur unsere mesokosmisch geprägte Sinnlichkeit imaginiere uns die Härte und Konsistenz des Tisches. Doch das Beunruhigende an den Überlegungen Jacobs ist dann ja gerade, dass es entscheidend auch um das Verständnis des Menschen geht – auch bei diesem sei zu unterscheiden zwischen dem alltäglichem Menschen, der uns als Lebenspartner, Bruder, Schwester, Kind oder Zeitgenosse und Mitmensch vertraut sei, der aber nichts anderes als der “blasse Widerschein” des “molekularen Menschen” sei. Genau hieran entzünden sich die gegenwärtigen philosophisch-anthropologischen Debatten.

Doch im Unterschied zur Zeit eines Scheler, Plessner, Gehlen und Merleau-Pontywirdin der heutigen Debatte von Philosophen nicht – vorsichtiger: kaum der Kontakt mit den Fachwissenschaften gesucht; schlimmer noch: Durch den dominierenden, bloß interpretierenden Anschluss der gegenwärtigen philosophischen Bemühungen an die erste Generation philosophischer Anthropologen, die ja eigene Konzepte entwarfen, muss der Eindruck entstehen, dass die biologische und biotheoretische Problemlage in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und heute unverändert sei; dass es als Kritik an der Genetik und Gentechnik ausreiche, die auf der organizistischen und vitalistischen Philosophischen Biologie basierenden klassischen anthropologischen Programme einfach nur wiederzubeleben. Jedem mit der Geschichte der Evolutionsbiologie, Entwicklungsbiologie und Molekularbiologie Vertrauten wird unmittelbar einleuchten, welche Verzerrungen sich durch eine solche zu kurz greifende Entfaltung anthropologischer Überlegungen ergeben müssen. […]

 

Inhalt

VorbemerkungS. 5
Christine Hertler
Woher wir kommen und wohin wir gegangen sind – Genealogien, Fossilien, Gene und ihre geographischen Orte
S. 7 – 26
Mathias Gutmann
Die “Sonderstellung des Menschen”. Zum Tier-Mensch-Vergleich
S. 27 – 77
Hans Heinz Holz
Das System der Sinnlichkeit?
S. 79 – 105
Daniel Dahlstrom
Gibt es eine eigene menschliche Anschauung?
S. 107 – 121
Edmund Braun
Grundlegung einer nicht-metaphysischen normativen Anthropologie
S. 123 – 135
Michael Weingarten
Versuch über das Mißverständnis, der Mensch sei von Natur aus ein Kulturwesen
S. 137 – 171
Mathias Gutmann & Michael Weingarten
Das Leibapriori – ein nicht ausgearbeitetes Fundament der Diskursethik?
S. 173 – 179
Karl Otto Apel
Das Leibapriori der Erkenntnis. Eine erkenntnisanthropologische Betrachtung im Anschluß an Leibnizens Monadenlehre
S. 181 – 200
Georgios Fatouros & Nina E. Fstouros
Der Käfer in der altgriechischen Literatur
S. 201 – 205
Ulrich Eisel
Rezension von Tobias Cheung “Die Organisation des Lebendigen”
S. 207 – 209