»Die Wissenschaft wird streng und nüchtern richten …« Mit diesen Worten leitete der Leipziger Zoologe Carl Chun (1852 – 1914) vor 100 Jahren die wissenschaftliche Auswertung der ersten deutschen Tiefsee-Expedition »Valdivia« (1898 – 1899) ein. Im Wettstreit und Vormachtstreben der Nationen konnte das Deutsche Reich damit an so erfolgreiche Unternehmungen wie die britische »Challenger«-Expedition (1872 – 1876) anschließen. Nachdem die Meere über Jahrhunderte den Abenteurern, Forschern und Konquistadoren nur ein gefahrvolles Hindernis bei der Entdeckung und Eroberung neuer Welten waren, wurden sie im 19. Jahrhundert selbst zum Gegenstand der Erforschung und Ausbeutung. Die Legenden und Fabeln von Untiefen und Untieren der Ozeane begannen der Kenntnis ihrer geologischen, hydrologischen und biologischen Verhältnisse zu weichen. Die Meereswissenschaften wurden zu einer besonderen Domäne der Küstenstädte und bestimmten auch die Forschungen der ältesten Universität des Ostseeraums in Rostock. Die Deutsche Gesellschaft für Geschichte und Theorie der Biologie wählte mithin die »Geschichte der Hydro- und Meeresbiologie« zum Generalthema ihrer 8. Jahrestagung in Rostock im Juni 1999.
Der Sammelband stellt wichtige Tagungsbeiträge vor. Einen Schwerpunkt bildet die »Valdivia«-Expedition von der Idee und dem Verlauf über die Veröffentlichung erster Ergebnisse durch den Gustav Fischer Verlag bis hin zur aktuellen Bedeutung. Der Wandel von der beschreibenden und ordnenden Systematik der Meeresorganismen zu einer globalen, interdisziplinären Meeresbiologie im Kontext wirtschaftlicher und politischer Interessen wird auch an den maritimen Forschungen im Baltikum deutlich, die einen weiteren Schwerpunkt darstellen. Die enge Verflechtung von Meeresbiologie und Fischereiwirtschaft offenbart sich besonders eindringlich in den Aktionen und Akteuren der russisch-sowjetischen Ozeanographie im Wechsel politischer Systeme 1897 bis 1934. Weitere Abhandlungen beinhalten Fragen der Ichthyologie und Planktonforschung, des Gewässerschutzes und der Meereszoologie vor der Errichtung fester Stationen. Dem Tagungsort tragen Beiträge über bedeutende Rostocker Botaniker, Zoologen und Mediziner sowie lokale Ereignisse Rechnung.
Einen gewohnt breiten Raum nehmen auch freie Themen, frühe bakteriologische Laborpraktiken, das Wirken herausragender Biologen in der Leopoldina oder politische Kampagnen um »Amikäfer«, ein. Die tschechische Metropole Prag erfährt durch Aufsätze über einen bekannten Naturalienhändler und zwei Generationen von Immunologen eine spezielle Hervorhebung. Abhandlungen über die Frühgeschichte des Biologiebegriffs bzw. Sexualdimorphismus und Geschlechtskonstruktion nehmen zu aktuellen terminologischen Fragen Stellung. Vor 100 Jahren wurden die Mendelschen Vererbungsregeln wiederentdeckt ein Jubiläum, an das schließlich die Würdigung eines weithin unbekannten und verkannten Lehrers von Gregor Mendel (1822 – 1884) erinnert.
Mit dem vorliegenden Band erscheinen die »Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie« erstmals in einem neuen, vereinheitlichten Layout mit kurzen Zusammenfassungen und Summaries. Die Vielzahl der, teils verdeckten Personenbezüge wird durch ein Namenregister über alle Beiträge erschlossen.
Inhalt
I. Zur Geschichte der Hydro- und Meeresbiologie | |
Uwe Hoßfeld Von statistischen Untersuchungen an Pleuronectes platessa L. (Scholle) zum Kleinhirn der Knochenfische (Osteichthyes) | S. 7 – 32 |
Ekkehard Höxtermann Natur- und Gewässerschutz in der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin – Verhältnisse und Visionen der 1950er Jahre | S. 33 – 46 |
Ilse Jahn Die Humboldt-Stipendien für Planktonforschung und die Haeckel-Hensen-Kontroverse (1881 – 1893) | S. 47 – 60 |
Julia A. Lajus Zwischen Wissenschaft und Fischerei: Meeresforschungen im Russischen Norden am Ende des 19. und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts | S. 61 – 74 |
Hannelore Landsberg »Die Wissenschaft wird streng und nüchtern richten …« (Carl Chun 1900) – 100 Jahre deutsche Tiefsee-Expedition »Valdivia« | S. 75 – 90 |
Harald Lorenzen Max Schultze (1825 – 1874), Zoologe und Zellbiologe – Freuden und Leiden am Mittelmeerstrand | S. 91 – 98 |
Isolde Schmidt Die Rolle des Gustav Fischer Verlages bei der Herausgabe von Ergebnissen der Deutschen Tiefsee-Expedition und anderer bahnbrechender naturwissenschaftlicher Werke | S. 99 – 110 |
Erki Tammiksaar Karl Ernst von Baer als Meeresbiologe | S. 111 – 118 |
II. Zur Geschichte der Biologie in Rostock | |
Brigitte Hoppe Empirie und Geometrie als Grundlagen der Botanik von Joachim Jungius (1587 – 1657) | S. 119 – 130 |
Thomas Junker Adolf Remane und die Synthetische Theorie | S. 131 – 158 |
Ragnar K. Kinzelbach Zur Geschichte der Zoologie in Rostock. Von der Wunderkammer zu Biodiversitätsforschung und Biotechnologie – Eine historische Übersicht | S. 159 – 182 |
Reinhard Mocek Adolf Friedrich Nolde (1764 – 1813) – ein Rostocker Kreisphysicus als Stadtsoziologe | S. 183 – 192 |
Brigitte Steyer Der Entwicklungsbiologe und Ornithologe Horst Wachs (1888 bis 1956) und seine besonderen Leistungen im Vogelschutz an der Ostsee | S. 193 – 208 |
III. Freie Themen | |
Erhard Geissler Kartoffelkäfer als dual-threat agents | S. 209 – 238 |
Michael Kaasch Botaniker und Zoologen als Mitgestalter der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina | S. 239 – 268 |
Kai Torsten Kanz Zur Frühgeschichte des Begriffs »Biologie«. Die botanische Biologie (1771) von Jakob Planer (1743 – 1789) | S. 269 – 282 |
Margarete Maurer Sexualdimorphismus, Geschlechterkonstruktion und Hirnforschung | S. 283 – 324 |
Vitĕzslav Orel und Gerhard Czihak Der Unterricht in Naturgeschichte und Landwirtschaftslehre im Hintergrund der Forschungsfrage Mendels | S. 325 – 340 |
Henri Reiling Václav Frič (1839 – 1916): Traces in Archives and Museums | S. 341 – 358 |
Werner Sohn Zum Verhältnis von Wissenschaftssubjekt und ‑objekt bei der Genese der Bakteriologie um 1880 | S. 359 – 374 |
Soňa Štrbáňová Two Immunologists Coming from Bohemia | S. 375 – 394 |